Ein Besuch beim fliegenden Teppich

Wir bei Margerite recherchieren viel im Internet. Und auch die Sozialen Medien werfen interessante Themen und potentielle Gesprächspartner auf. In den persönlichen Gesprächen werden uns dann oftmals weitere Kontakte empfohlen. “Wenn ihr daran interessiert seid, dann müsst ihr auch mit dieser Person sprechen”, hören wir dankeswerterweise sehr oft. Viele spannende Menschen und Geschichten wurden bereits über unser Netzwerk an uns herangetragen. Beim fliegenden Teppich war es genauso. Annick Langlotz vom Kulturnetzwerk Glarus erzählte uns bei unserem Besuch im Raum tomorrow vom fliegenden Teppich, einem Konzept zur Unterstützung von Menschen in Not – unter anderem mit den Mitteln der Kunst. Wir sollten uns doch mal bei Susanne Fanzott melden, was wir dann auch gemacht haben.

So machten wir uns an einem schönen Sommermorgen auf den Weg, um den Start- und Landeplatz des fliegenden Teppichs zu besuchen. Dieser befindet sich in Betschwanden in einer ehemaligen Textilfabrik, fast zuhinterst im Glarner Grosstal und kurz vor dem Anstieg zum Klausenpass. Eingebettet zwischen der still dahinfliessenden Linth und dem scheinbar kilometerlangen, schnurgeraden Schienenstrang der SBB, welcher allerdings im nächsten Ort als Sackbahnhof sein jähes Ende findet. In direkter Nachbarschaft hat sich auch der Zirkus Mugg niedergelassen, welcher auch für den fliegenden Teppich eine zentrale Rolle spielt, wie wir ein wenig später an diesem Tag herausfinden.

Zu Besuch beim fliegenden Teppich

Zu Besuch beim fliegenden Teppich in Betschwanden

Susanne begrüsst uns im Beizli des Zirkus Mugg und offeriert uns einen Kaffee. Auf der Webseite des fliegenden Teppichs haben wir gelesen, dass er ein Raum ist wo Menschen – welche sich in Such- oder Umbruchphasen befinden – ankommen, auftanken und gestärkt weitergehen dürfen. Wir sind ein bisschen erstaunt über das Setting, haben wir doch nicht wirklich erwartet, einen Zirkus zu besuchen. Susanne lacht über unsere Verwunderung und klärt uns über die Lage auf – offensichtlich sind wir nicht die Ersten, die bei der Ankunft ein bisschen verwirrt sind.

Susanne, seit vielen Jahren als Ergotherapeutin und Trauerbegleiterin unterwegs, hatte ihren Behandlungsraum hier in der ehemaligen Textilfabrik eingerichtet. Sie befindet sich selber gerade in einer Umbruchphase und wird nach neun Jahren Tätigkeit bei den Linthpraxen ein neues Kapitel im Kantonsspital Glarus aufschlagen und ihre Selbständigkeit aufgeben. Dazwischen hat sie sich selber ein gut zweimonatiges Timeout verschrieben, in welchem sie die Vergangenheit sortieren und die kommenden Projekte korrekt aufgleisen möchte, um sie so bestmöglich in die richtigen Bahnen zu leiten. Wir merken schnell, dass der fliegende Teppich eine Herzensangelegenheit von Susanne ist.

Susanne Fanzott auf der Karussellbar des Zirkus Mugg

Susanne Fanzott auf der Karussellbar des Zirkus Mugg

Der fliegende Teppich versteht sich als eine Art Zwischenhalt, ersetzt keine Therapie, sondern sieht sich mehr als eine niederschwellige Ergänzung bestehender Therapien, ohne jeglichen Druck. Begegnung, Sichtbarwerden und Austausch sind dabei zentral. Der Gast soll sich auf diesem gewobenen Netz geschützt fühlen, Zeit erhalten und seine Emotionen miteinbringen dürfen.

Die Fasern, aus welchem der fliegende Teppich gewoben ist, bestehen aus mehreren Menschen, welche in unterschiedlichen Berufsgattungen tätig sind. Künstler unterschiedlichster Fachrichtungen, Pädagogen, Theologen und Therapeuten. Ein Verbund von Menschen, welche gemeinsam einen Teil ihrer Fähigkeiten und ihrer Zeit für Menschen in Not kostenfrei hergeben. Neben der miteingebrachten Fachkompetenz haben viele Mitglieder auch selbst persönliche Schicksalsschläge und Verluste erfahren, wodurch sie in den Begegnungen mit den Gästen als gleichberechtigte und glaubwürdige Begleiter wahrgenommen werden.

Sie alle gehen ihrem Beruf nach, einige sind selbstständig in ihrem eigenen Unternehmen tätig, andere verdienen als Festangestellte ihr täglich Brot. Annick, Philipp und Susanne treffen sich regelmässig um die Flugrichtung des gewebten Teppichs mitzuverfolgen, aufkommende Ideen einzubringen und auch um sich gegenseitig mitzuteilen, was sie selber im Moment bewegt.

Hier vor Ort im Fabrikgebäude ist das “Atelier G’meinsam” einquartiert. Andere Möglichkeiten sind auch weiter vorne im Kanton, wie z.B. die Morgenmediation bei Philipp Langlotz oder der gut besuchte Lesezirkel von Rolf Zaugg und Peter Hofmann. Lilo Marburg steht mit ihrem Keramikatelier in Ennenda für die praktische Umsetzung von Tonprojekten nach Möglichkeit zur Verfügung. So langsam verstehen wir das Konzept vom fliegenden Teppich und es berührt uns schon ein wenig, dass sich diese Menschen einer guten Sache verschrieben haben.

Susanne möchte uns diejenigen Fasern vor Ort zeigen, aus welchen der fliegende Teppich teilweise gewoben ist. Dafür führt sie uns durch das altehrwürdige Gebäude, wo auch der Zirkus Mugg seine Werkstatt und sein Nähatelier eingerichtet hat. Gleich beim Eingang treffen wir auf Flurina Oesch, welche mit ihrem Polsteratelier “Wohnwerkstatt” vor drei Jahren von ihrem Zuhause hierhergezogen ist. Neben Auftragsarbeiten fällt auch durch den Zirkus Mugg so einiges an Arbeit für sie an.

Die alte Textilfabrik wo das Atelier G'meinsam untergebracht ist

Die alte Textilfabrik wo das Atelier G’meinsam untergebracht ist

Weiter hinten im Erdgeschoss zieren grosse Graffitis die Wände, welche nicht von Vandalen, sondern ganz legal von Jugendlichen angebracht wurden. Bis im Jahr 2020 war hier der regionale Jugendtreff einquartiert. Mit dem Wegzug des Treffs ist Platz für neue Mieter entstanden, z.B. für kleinere Handwerksbetriebe, welche sich vielleicht dann auch beim fliegenden Teppich einweben könnten.

Wir gehen weiter durch das Gebäude und werfen einen Blick ins “Atelier G’meinsam”. Hier wird mit den unterschiedlichsten Materialien wie Holz, Ton, Keramik, Metall und Holz gearbeitet. Es kann kreativ gestaltet, gemalt, geformt, gesägt, gebastelt, gefilzt und getextet werden. Bei diesen vielfältigen Optionen stellen wir uns die Frage, wie und wofür sich ein Gast entscheidet? Susanne meint dazu, dass sich vielleicht im ersten Gespräch bereits eine Idee findet, in welcher Art jemand mitmachen möchte.

Auf dem fliegenden Teppich beginnt der Flug schon, bevor der Gast dies überhaupt aktiv wahrnimmt. Wer sich selber Fragen stellt wie “Was würde ich gerne tun?” oder «Was würde mir jetzt in diesem Moment guttun?», setzt sich aktiv mit sich selbst auseinander.

Die Gäste bringen unterschiedliches Reisegepäck für den Flug mit. Eine Unfall- oder krankheitsbedingte Beeinträchtigung wie z.B. eine Hirnverletzung oder Long-Covid. Ein persönlicher Schicksalsschlag, aber auch eine «einfache» Scheidung oder Pensionierung kann Menschen komplett aus der Spur werfen. Somit ist auch die Flugdestination jedes Mal eine andere und deshalb gibt es keine standardmässige Flugvorbereitung.

Es ist den Gästen überlassen, ob sie sich alleine oder als Teil einer kleinen Gruppe auf den Flug begeben wollen. Zurückfinden ins Leben, in die Gesellschaft oder zu seinem eigenen Ich, das möchten viele. Einige möchten sich einfach selber Zeit mehr geben und sich mit einem Menschen unterhalten, z.B. bei einem Spaziergang an der nahen, noch jungen Linth, welche nebenan das Tal hinunterfliesst.

Andere äussern den Wunsch, sich einbringen zu können und mit einer sinnstiftenden Tätigkeit Spuren zu hinterlassen. Diesem Wunsch entspricht z.B. die für den Zirkus Mugg hergestellten Dekorationsobjekte, da diese mit den eigenen Händen geschaffen werden und etwas zum Gesellschaftsleben beitragen. Wieder andere möchten das, was sie aktuell beschäftigt oder aber auch das, was ihnen bei der Verarbeitung guttut, schriftlich festhalten und mit anderen Menschen teilen. Solche Texte kann man auf derfliegendeteppich.ch in der Rubrik «Geschichten» finden.

Nachbarn: Der fliegende Teppich und der Zirkus Mugg

Nachbarn: Der fliegende Teppich und der Zirkus Mugg

Wir schliessen den Rundgang so langsam ab und Susanne führt uns noch durch die verschiedenen Zelte und Aufbauten des Zirkus Mugg. Hier proben gerade Kinder das Zirkusprogramm, welches sie in den vergangenen Ferientagen geübt haben und bald ihren Eltern und Freunden vorführen werden. In einem anderen Zelt wird für eine Hochzeitsfeier am Wochenende aufgetischt und in der Zirkusküche wird das Mittagessen für die Teilnehmer des Ferienlagers gekocht. Der bio-zertifizierte Zirkus Mugg wird von der Familie Muggli in zweiter Generation geführt und ist ein stationärer Akrobatik-/Clownerie-Zirkus ohne Tiere.

Diese kurze Beschreibung wird dem Mugg-Universum allerdings nicht gerecht. Neben den diversen Shows, wie z.B. dem Mugg’s Varieté Dinner Spektakel, gehören auch Workshops, Tagesausflüge, Projektwochen, Umrahmung von Festen und Jubiläen sowie Übernachtung im Zirkuswagen zum Angebot. Diese besonderen Erlebnisse werden auch für – und mit – Menschen mit Beeinträchtigungen durchgeführt, wofür dem Zirkus Mugg der Insieme-Award verliehen wurde. Susanne schwärmt von der familiären Gemeinschaft, welche sie nicht nur im Zusammenleben auf dem Gelände Tag für Tag mit der Zirkusfamilie erlebe, sondern auch beim gegenseitigen Austausch und Mitwirken bei Projekten des fliegenden Teppichs.

Feine Sachen gibt es im Zirkusbeizli vom Zirkus Mugg

Feine Sachen gibt es im Zirkusbeizli vom Zirkus Mugg

Wir gehen wieder nach draussen und geniessen im Zirkusbeizli bei Kaffee und Kuchen die warmen Sonnenstrahlen. Vielleicht sind sie es, die uns das Gefühl geben, die positive Energie an diesem Ort fast greifen zu können. Dass Gäste gerade hier – an der letzten Haltestelle vor dem Sackbahnhof – auf den fliegenden Teppich aufsitzen und darauf in die Lüfte entschweben, um neue Wege zu begehen, ist doch eine wunderschöne Metapher.

Dann ist auch schon die Zeit gekommen, uns zu verabschieden, und wir wünschen Susanne und dem Rest vom Team des fliegenden Teppichs von Herzen alles Gute und viel Erfolg.