Ein Rundgang mit Matthias Zurbrügg, Schrift-Steller & Schauspieler
Viele Kunstwerke auf Friedhöfen haben eines gemeinsam – ihre Erschaffer sind bereits verstorben. Nachdem wir auf einigen Friedhöfen vergebens nach Kunstwerken noch lebender Künstler gesucht hatten, verlagerten wir unsere Suche nach potenziellen Interview-Partner ins Internet. Dort haben wir einen Künstler gefunden, welcher zeitlich begrenzte Installationen und Aufführungen auf zwei heimischen Friedhöfen inszeniert hat: Matthias Zurbrügg.
Der Künstler ist bekannt für seine temporären Wortinszenierungen: Wohl platzierte, unter freiem Himmel aufgestellte Holzbuchstaben formen Wortbilder. Seit 2016 sorgen seine 40 bis 400 cm hohen Wörter im öffentlichen Raum beim Betrachter für Staunen, Schmunzeln und auch Stirnrunzeln. Manchmal sogar alles gleichzeitig im Wechselspiel.
2019 führte Matthias Zurbrügg die Ausstellung «ZEIT LOS LASSEN» auf dem grössten Stadtberner Friedhof Schosshaldenfriedhof durch. Im Jahr 2020 setzte er die Wortbilder in Basel auf dem grössten Friedhof der Schweiz (Friedhof am Hörnli) unter demselben Titel in Szene.
Die Buchstaben sind aus hellem und in naturbelassenem Tannenholz angefertigt. Sie lehnen sich an der Schrift des weit sichtbaren Hollywood Wahrzeichen an und heben sich gut leserlich vom meist dunklen Hintergrund ab.
Uns faszinieren die im Internet verfügbaren Fotos. Das Zusammenspiel – zwischen den Worten und der Umgebung, in welcher sie aufgestellt werden – ist auf verschiedenen Ebenen spannend. Meistens stehen die Worte in direktem Bezug zur Örtlichkeit, wo sie aufgestellt sind. Manchmal mit Bezug zur unmittelbaren Umgebung, manchmal ein bisschen weiter gefasst. Aber auch mit der Anordnung der Worte wird gespielt. Betrachtet man z.B. die auf einem Friedhof aufgestellten Wörter «Zeit», «los» und «lassen» aus einem bestimmten Winkel, erscheinen sie in einem Dreieck angeordnet. Welches Zusammenspiel der Begriffe, welche durch diese Anordnung entstehen, nun auch am besten passt, das ist dem Betrachter selbst überlassen.
Unsere Anfrage für ein Interview beantwortet er positiv und wir verabreden uns für ein paar Tage später auf ein Treffen. Zuhause ist er in Utzigen BE, östlich von der Bundeshauptstadt und mitten im Dreieck Bern, Langnau i.E. und Burgdorf gelegen. Hier wohnt er seit Jahren in einem Stöckli auf einem wunderbar alten Bauernhof.
Petrus meint es gut mit uns an diesem Tag. Strahlendblauer Himmel, Temperaturen knapp unter 30 Grad, erntebereite Rapsfelder soweit das Auge reicht. Man versteht sofort, weshalb man hier – weit weg vom städtischen Trubel – hängen bleiben könnte.
Matthias Zurbrügg begrüsst uns freundlich und wir setzen uns im Vorgarten an ein Gartentischchen. Zur Erfrischung geniessen wir kühles Wasser und – für den Anschub unserer Kreisläufe – Kaffee. Die Neugierde dem jeweiligen Gegenüber hält sich die Waage. Wir berichten ihm ein bisschen vertiefter von unserem Projekt «Margerite» und über unsere Person. Noch bevor wir ihn zu seiner Geschichte und seiner Beziehung zur Thematik «Friedhof und Tod» befragen können, stellt er uns Interviewern dieselbe Frage. Ein bisschen später wird uns dann auch bewusst, weshalb er vermutlich diese Frage stellte. Auch er hat die Erfahrung gemacht, dass jeder Mensch unterschiedlich mit dem Thema Tod umgeht. Deswegen sondiert er so sein Gegenüber dahingehend vor. Dieses empathische Verhalten empfinden wir als sehr sympathisch.
Interessanterweise habe er eigentlich gar keine spezielle Beziehung zur Thematik Friedhof und/oder Tod gehabt. Auch vor dem Tod an sich fürchte er sich nicht, er würde es eher Neugierde nennen. Was kommt danach? Kommt etwas danach? Er sei aufgrund der Literatur und aufgrund von Theaterstücken und -spaziergängen quasi «auf dem Friedhof gelandet». In den letzten gut zwei Jahrzehnten hat er diverse Theaterproduktionen geleitet und auch als Schauspieler mitgewirkt. Eine Titelauswahl einiger Inszenierungen wie «Der Totengräber», «Der Blutfürst» oder aber «Komm lass uns etwas Gutes tun, und dabei sterben!» sprechen für sich.
Matthias Zurbrügg geht mit uns zu seinem Buchstabenlager, welches sich in einer Scheune – ein paar Gehminuten von seinem Stöckli entfernt – befindet. Unterwegs treffen wir eine Frau, welche mit ihrem Hund am Spazieren ist. Matthias Zurbrügg grüsst sie fröhlich und wechselt ein paar Worte mit ihr. Man kennt sich, sie tanzte einst in einem Theaterstück auf einem Berner Friedhof mit.
Der aus dem Zürcher Glattal stammende Künstler war in jungen Jahren in einem Wanderzirkus in der Schweiz unterwegs und blieb mehr oder weniger zufälligerweise in dieser Region hängen. Es habe sich halt einfach so ergeben und sei nicht gross geplant gewesen. Klar, die vergleichsweise niedrigen Kosten fürs Wohnen und Lagern sei schon auch ein wichtiger Faktor. Er fühle sich trotz dem unabwaschbaren «Zuzügerstempel» wohl in seiner neuen Heimat.
Bei der Scheune angekommen zeigt Matthias Zurbrügg uns zuerst das Lager der «kleinen» Buchstaben. Da die ja ein bisschen besser verstaut werden können als die Grossen, finden sie Platz im unteren Bereich der Scheune. Dort wo ehemals die Nutztiere gehalten wurden. Hier reihen sich nun also dutzende, meist aus naturbelassenem Tannenholz zusammengesetzte Buchstaben. Leider habe es auch ab und zu ein bisschen mehr Feuchtigkeit gehabt als erwünscht. Auf einigen der Buchstaben hat die Feuchtigkeit ihre Spuren hinterlassen. Aber Holz sei ja ein sehr angenehmer Werkstoff und ein bisschen Wasser könne ihm nicht gross was anhaben.
Wir gehen in den oberen Teil der Scheune, wo die grösseren Buchstaben lagern. Schön aneinandergereiht warten sie hier auf ihren nächsten Einsatz. Eine genaue Inventur bestehe zwar nicht, aber er wisse schon ziemlich genau, was wie noch vorhanden ist und auch wo es gefunden werden kann. Für uns ist das schwer vorstellbar, wenn wir die schiere Menge der aufgereihten Buchstaben so angucken.
Wir verlassen die Scheune und laufen in der sengenden Sonne zurück zum Stöckli – Matthias Zurbrüggs Wohnhaus. Wir ziehen uns auf die schattenspendende Laube zurück, erfrischen uns mit einem kühlen Glas Wasser und geniessen die schöne Aussicht. Wir nehmen das Stichwort «Aussicht» auf und möchten gerne wissen, wie er denn so seine beruflichen Aussichten sähe? Wie in etwa habe Corona seine Arbeiten während und auch nach der Pandemie beeinflusst?
Matthias Zurbrügg überlegt einen Moment und erzählt für uns doch ziemlich überraschend, dass ihn Corona eigentlich gar nicht so schlimm getroffen habe. Wir sind überrascht, denn die coronabedingten Einschränkungen haben vielen Künstlern über Nacht die Einkommensgrundlage entzogen. Seine Erklärung ist jedoch einleuchtend: Seine Wort-Inszenierungen finden im Freien statt und somit können diese Ausstellungen fast jederzeit besucht werden. Ebenfalls kann im Freien der Mindestabstand unkomplizierter eingehalten werden als innerhalb von Gebäuden. Durch die erzwungene Entschleunigung des Alltages hätten die Menschen mehr Zeit erhalten. Zeit, welche auch für einen Besuch der Ausstellung genutzt wurde. Auch die geführten literarischen Spaziergänge durch die verlängerte Ausstellung konnten im sommerlichen Wellental der Pandemie stattfinden.
Damit hätten wir nun wirklich nicht gerechnet: Ein eher positives Corona-Fazit aus dieser Branche. Vermutlich bewegt er sich schon zu lange in der schwierigen Schweizer Theater- und Künstlerwelt, als dass ihn Corona aus der Bahn hätte werfen können. Einfach immer weitermachen, sich manchmal einfach treiben lassen. Irgendwas wird es schon wieder geben. «Liefere statt lafere» sei ihm schon immer lieber gewesen. Etwas ausprobieren, umsetzen und dann halt auch vielleicht wieder verwerfen anstatt in der Theorie verweilen und gar nicht vorankommen.
Ins Ausland möchte er noch gerne. Quasi die Flucht nach vorne ergreifen. Es gäbe noch viele Städte im benachbarten, deutschsprachigen Ausland. Auf deren Friedhöfen würde er gerne seine Schriftbilder inszenieren.
Und ja, der Aufwand für das Einreichen von Finanzierungsgesuchen bei öffentlichen Institutionen und Kulturstiftungen sei sehr zeitintensiv. Ein negativer Bescheid auf eine solche Bewerbung schmerze ja grundsätzlich jeden Menschen. Schwierig würde es für ihn aber eigentlich nur dann, wenn keine Absage-Gründe mitgeteilt würden. So wisse man nicht, ob bei einem nächsten ähnlichen Projekt wieder ein Gesuch gestellt werden soll.
Gerne würde er noch auf einem Stadtzürcher Friedhof eine Wortinszenierung durchführen. Zürich? Wir fassen beim Wahl-Berner nach… Ja, er stelle sich das ein bisschen wie ein Heimkommen vor. Nach den Wanderjahren – oder besser gesagt Wander-Jahrzehnten – wieder zurück nach Hause zu kommen. In Form einer inszenierten Wörter-Ausstellung. Um somit seinen eigenen Rundgang abschliessen? Ja, das wäre schon noch eine Sache, die ihm Freude bereiten würde, meint Matthias Zurbrügg dazu. Wir haben das Gefühl, vielleicht sogar ein bisschen mehr Freude, als dass er sich das zurzeit eingesteht?!?
Mittlerweile ist fast ein halber Tag vorüber gegangen. Wir verabschieden uns und machen uns auf den Heimweg. Nicht aber, ohne dass er uns noch auf einen Rundgang in seinem Gemüsegarten mitnimmt. Ein relativ neues Hobby, welches er seit ein paar Jahren entdeckt habe. Sagt er, reisst zwei riesige Rettiche aus der Erde und schenkt sie uns zum Abschied.
Vielen Dank auch dafür, lieber Matthias…
© Blogpost Titelfoto «ZEIT LOS LASSEN» 2020 Kaspar Hiltbrand