Auf einen Kaffee bei Pierre Haefelfinger

Wir treffen Pierre Haefelfinger auf dem Friedhof in Glarus, an einem wunderschönen aber frostigen Vormittag im März 2022, vor seinem Kunstwerk „Ein schwacher Mensch bekommt Hilfe“. Dabei handelt es sich um eine Rostskulptur, eine quadratische, ca. 2 cm dicke Eisenplatte mit einer ungefähren Kantenlänge von 1.8 Meter. Den Elementen ausgesetzt oxidiert – also rostet – die Oberfläche vor sich hin und verändert so ihr Erscheinungsbild über die Zeit.

Pierre Haefelfinger - Ein schwacher Mensch bekommt Hilfe

Pierre Haefelfinger – Ein schwacher Mensch bekommt Hilfe

Die abgebildete Szene – in welcher eine stehende Person einer Person am Boden wieder aufhilft oder ihr tröstend und schützend die Hand über den Kopf hält – wurde silhouettenartig aus der Platte ausgeschnitten. Das 2017 an die Kirchgemeinde Glarus überreichte Präsent wurde vom Gemeindepräsident verdankt und von Geistlichen gesegnet. Seitdem lädt es die Besucher auf dem Friedhof ein, sich einen Moment Zeit zu nehmen und innezuhalten. Dies werde in Zukunft noch besser möglich sein, denn später an diesem Tag würde er sich dann noch mit Vertretern von der Gemeinde treffen und die Positionierung einer Sitzgelegenheit in Sichtweite der Skulptur besprechen, lässt uns Pierre Haefelfinger wissen.

Gerne möchten wir von ihm mehr über die Entstehungsgeschichte des Kunstwerkes erfahren. Denn unsere vorgängige Recherche liess uns nicht unbedingt vermuten, dass er sich in seinen Werken mit der Metallbearbeitung auseinandersetzt. Oh, er mache aus allerlei Dingen neue Objekte, klärt er uns auf. Alltägliche Gegenstände wie z.B. alte Werkzeuge habe er, insbesondere zu Beginn seiner Schaffenszeit, oftmals umfunktioniert.

Der Ursprung dieser Rostskulptur liegt bereits vor über 25 Jahren, damals allerdings als Sujet für eine Briefmarke. Er reichte diesen Vorschlag 1995 für einen Wettbewerb der Schweizer Post ein, wurde allerdings nicht berücksichtigt. Er verwendete es zu einem späteren Zeitpunkt für eine Slidepicture, verspürte aber auch danach immer den Wunsch, das Motiv grossflächig umzusetzen.

Pierre Haefelfinger - Ein schwacher Mensch bekommt Hilfe, Briefmarkenentwurf

Pierre Haefelfinger – Ein schwacher Mensch bekommt Hilfe, Briefmarkenentwurf

Mit dem Älterwerden sei bei ihm das Bedürfnis entstanden, seine Dankbarkeit für ein gesundes und aktives Leben zum Ausdruck zu bringen. Eines Tages habe sich dann alles zusammengefügt und sein lang gehegter Wunsch wurde real. Den Friedhof Glarus habe er auch als Standort für sein Werk auserwählt, weil hier gute Bekannte und einer seiner Söhne – leider viel zu früh verstorben – ihre ewige Ruhe gefunden haben.

Wir bitten ihn für ein paar Fotos neben seinem Kunstwerk zu posieren, und halten so den Künstler und sein Kunstwerk bildlich fest. „Künstler“ möge er sich gar nicht so gerne nennen, lieber Creator/Créateur, also Erschaffer und Gestalter. Seine Werke seien ja alles echte Einzelstücke, keine Kopien oder massenhaft hergestellte Produkte. Dies stehe im Gegensatz zu vielen Produkten mit „Kunst“ im Namen, welche heute oftmals in der Industrie verwendet würden. So seien z.B. Kunstdünger oder Kunstfasern jeweils unechte Kopien eines Originals und somit genau das Gegenteil von seinen Arbeiten. Kein Objekt habe er jemals zweimal hergestellt.

Gerne würde er uns auf einen Kaffee bei sich zu Hause einladen, dort befände sich auch sein Atelier. Selbstverständlich nehmen wir sein Angebot gerne an. Am Sonnenhügel – seinem Wohnsitz – angekommen erwähnt er so nebenbei, dass er die Überbauung seinerzeit als Architekt entworfen habe und die Projektausschreibung gewonnen habe. Nachdem wir uns beim Kaffeetrinken etwas aufgewärmt haben führt er uns durch die Wohnung. Pierre Haefelfinger ist der Erfinder der sogenannten Slidepictures/Ringpictures, also Schiebebilder.

Pierre Haefelfinger Slidepictures

Er hat davon über 300 unterschiedliche Exemplare hergestellt und unter anderem in New York und Paris ausgestellt. Es gefällt ihm, dass man diese Bilder je nach Gusto verändern kann und somit immer wieder eine andere Ansicht zusammenschieben kann. Branchenüblich ist man oftmals angehalten, erschaffene Werke nicht anzufassen, sondern nur mit dem Auge zu betrachten. Nicht so seine Slidepictures, die die physische Interaktion mit dem Betrachter sogar verlangen. Der Drang zu Bewegung, Dynamik und Veränderung entsprechen Pierre Haefelfingers Naturell. Das spüren wir bereits nach dieser kurzen Zeit, welche wir mit ihm verbringen durften. Stillstand und Rast, das ist – auch mit seinen mittlerweilen über 90 Jahren – nichts für ihn.

Auch in der Wohnung und seinem Atelier – ein kleines Zimmer in der Wohnung – hängen einige dieser Schiebebilder. Aber nicht nur. Auch Objekte anderer Künstler zieren die Wände und Gestelle – ein kleines Museum mit Findlingen aus aller Welt, welches er sich da über Jahrzehnte hinweg zusammengesammelt hat. Auf Reisen sei er immer gerne gewesen. Auch als Architekt – seinem erlernten Beruf – habe er es genossen, als Teil internationalen Projektgruppen zu arbeiten, und erzählt uns von der eindrücklichen Zusammenarbeit mit der Finnischen Architekten-Ikone Alvar Aalto. Vielleicht habe er dieses Reise-Gen auch tatsächlich vererbt gekriegt, was ihn seine betriebene Ahnenforschung vermuten lasse. Denn in seiner Ahnenkette befinde sich höchstwahrscheinlich der Schweizer Johan Kaspar Horner. Dieser war zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Auftrag des Zaren von St. Petersburg als gefragter Mathematiker und Astronome Teil einer Forschungstruppe auf Weltumsegelung.

Dass Pierre Haefelfinger aufgrund seines Alters jetzt nicht mehr die grossen Sprünge machen kann hat er selber erkannt und akzeptiert. Das sei nun mal einfach der Lauf der Zeit. Kein Gram und keine Verbitterung in diesen Worten. Dass zurzeit gerade einige Familienangehörige mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben beschäftigt ihn doch sehr. Deswegen müsse er auch noch in das Spital und wir leider bald gehen. Aber wir dürften gerne wiederkommen, es gebe ja auch hier noch viel zu tun. Er zeigt uns beim Verabschieden noch sein neustes Projekt „Drehschaukasten“, welches er sich erst kürzlich patentieren lassen hat. Auch ins Internet würde er gerne noch mit seinen Werken, vielleicht könnten wir ihn dabei evtl. unterstützen? Können wir, werden wir, lieber Pierre Haefelfinger.