Die Engelskinder auf dem Friedhof Zollikerberg

Der Verlust eines geliebten Menschen ist immer ein schmerzhaftes Ereignis für die Hinterbliebenen. Eine dadurch im eigenen Leben entstandene Lücke wieder füllen zu können, scheint im ersten Moment des Entsetzens, der Erschütterung und der Fassungslosigkeit oftmals unvorstellbar. Der verlorene Halt und die Zuversicht für die Zukunft müssen erst wieder gefunden werden. Begegnungen und Gespräche mit anderen Menschen helfen auf diesem Rückweg in die emotionale Normalität.

Ebenfalls kann eine Grabstätte einer verstorbenen Person eine wichtige Stütze in diesem Prozess sein. Jedoch steht gemäss dem Schweizer Zivilstandesrecht nicht jedem Menschen das «Anrecht auf Bestattung» zu. Der Gesetzgeber definiert, dass dieses Anrecht für totgeborene Menschen erst nach der Vollendung der 22. Schwangerschaftswoche besteht. Oder wenn das Geburtsgewicht mehr als 500 Gramm beträgt. Andere Föten und Babys werden Engelskinder oder auch Sternenkinder genannt. Dies, weil sie nie die Möglichkeit hatten, hier auf Erden zu wandeln, sondern direkt in den «Himmel» kamen. Die Definition des Gesetzgebers führte in der Vergangenheit dazu, dass alle Föten und Babys, welche den obgenannten Kriterien nicht entsprachen, keinen Platz für ihre ewige Ruhe auf dem Friedhof finden durften. Somit fehlte für viele Eltern ein wichtiges Element der Trauerbewältigung. Dies ist ziemlich erstaunlich, da in der Schweiz doch fast jedes Jahr um die 20’000 solcher Engelskinder auf die Welt kommen.

Seit ein paar Jahrzehnten wird diesem Umstand durch einige Friedhöfe Rechnung getragen: Neben Erdgräbern, Gemeinschaftsgräbern und Urnennischen wurden spezielle Bereiche für Engelskinder geschaffen. Die Art und Weise einer solchen Bestattung unterscheidet sich von Friedhof zu Friedhof. Ob die Bestattungszeremonie zeitnah stattfindet oder aber z.B. an festgelegten halbjährlichen Terminen, hängt jeweils vom Reglement des Friedhofes ab. Dort ist auch geregelt, ob die Angehörigen der Zeremonie beiwohnen dürfen oder nicht.

Horst Bohnet Werden und Vergehen Zollikerberg

Wir fanden auf dem Friedhof Zollikerberg in Zollikon eine Gedenkstätte für solche Engelskinder. Erschaffen wurde sie 2008 durch den Künstler Horst Bohnet, wie wir aus dem Internet erfahren. Selbstverständlich möchten wir mit ihm sprechen und mehr über dieses Projekt erfahren. Unsere Kontaktaufnahme beantwortet er positiv und empfängt uns an einem eiskalten und ziemlich grauen Novembertag vor seinem Atelier in Dällikon. Seine Wohnung befindet sich nur einige Meter weiter oberhalb an derselben Strasse.

Beim Anblick des ziemlich alten und lottrigen Gebäudes stellen wir uns die Frage: Ist es ein Wohnhaus, eine Scheune, ein Stall oder sogar von allem ein bisschen? Im Dachstock hat er sich erst vor ein paar Monaten sein kleines, neues Atelier eingerichtet. Die restlichen Räumlichkeiten in dieser durchzugsgeschwängerten, historischen Mühle werden nicht bewohnt. Hauptsächlich dienen sie als Ablageort für unterschiedliche Dinge, vorwiegend noch aus dem Besitz der vorherigen Benutzer.

Wir sind froh, dass wir unsere dicken Winterjacken tragen als wir über die knarrende Holztreppe ins Obergeschoss steigen. Der sichtbare Atem lässt uns einen eher frostigen Nachmittag erwarten. Doch weit gefehlt! Denn die hintere Hälfte des Dachstocks ist durch eine Wand abgetrennt. Hier, in diesem gut isolierten und geheizten Raum, hat sich Horst Bohnet eingerichtet.

Viel Platz brauche er sowieso nicht mehr. Früher habe er eher noch grosse, sperrige und schwere Werke produziert. Wie z.B. die elf Meter hohe Eisenplastik «Regenstor», welche seit 2009 in einem Verkehrskreisel im Nachbarsort Regensdorf steht. Auch einige Brunnen in der Region wurden vom Steinbildhauer aus einem einzigen grossen Brocken Sandstein, Gneis oder Marmor geschaffen. Von der Bildhauerei und dem Werkstoff «Stein» hat er sich in seiner Schaffenszeit immer mal wieder entfernt. Einige Skulpturen aus Schnee und Eis hat er geschaffen. Die Arbeit mit dieser Materie sei schon sehr interessant und eigentlich einzigartig und er zieht gleich mehrere Parallelen zum Leben. Der Wandel und die Vergänglichkeit der Werke, das unaufhaltsame Schmelzen und schlussendlich auch das Verdunsten ins unendliche Nirgendwo. Wir erkennen den Zusammenhang und bei uns verstärkt sich der Eindruck, dass der Wandel – die Veränderung – schon immer ein wichtiger Bestandteil in seiner Arbeit war und auch bleiben wird.

Auf den ersten Blick erscheinen deshalb seine Werke aus Bronze in einem krassen Kontrast dazu. Ist das Metall doch von langer Beständigkeit. Die meisten bronzenen Kunstwerke überleben ihre Besitzer und auch noch viele Generationen derer Nachkommen.

Stengel von Horst Bohnet

Stengel von Horst Bohnet

Horst Bohnet klärt uns allerdings darüber auf, dass auch bei der Herstellung der Bronzeskulpturen ein Wandel geschieht. Da die Skulpturen gegossen werden, also flüssiges Bronze-Metall wird in eine Gussform abgefüllt, wird die Skulptur jeweils zuerst aus Wachs hergestellt. Dieses Wachsobjekt wird dann in einem aufwändigen Arbeitsschritt mit einer Art Gipston-Gemisch feuerfest ummantelt, der sogenannten Gipsschamotte. Sobald die Ummantelung ausgehärtet ist, kann das flüssige Metall in die Gussform gegeben werden und das Metall nimmt den Platz des Wachses ein. Die erschaffene Wachsfigur muss zuerst zerstört werden, damit an ihrer Stelle etwas anderes entstehen kann.

Entstehen lassen hat er so schon hunderte Bronzeskulpturen, von einigen wenigen Zentimeter bis über drei Meter gross. Im Jahr 2003 hat er im Zuge seines Projektes «Bronzezeit» jeden Tag eine Skulptur angefertigt. So ist eine Art Tagebuch entstanden, welches Tag für Tag die persönlichen Gedanken, Gefühle, Erlebnisse und Emotionen des Künstlers festhält.

Wie alles auf dieser Welt sei auch er mit dem Fortschreiten der Zeit dem Wandel unterworfen. Nicht nur der Geist entwickle sich weiter, auch der Körper würde nicht von Veränderungen verschont. Kraft- und energiemässig sei einfach nicht mehr dasselbe möglich wie noch vor 20 Jahren. Dies sei mit auch ein Grund, dass er seine Arbeit und alles was im Zusammenhang mit derselben steht, redimensioniert hat. Der Umzug in dieses kleine aber feine Atelier sei auch ein Teil dieses Wandels.

Horst Bohnet äussert diese Worte ohne zynischen Unterton. Ziemliche Sorgen bereitet ihm allerdings seine Hand, welche er sich vor ein paar Monaten schwer verletzt hat. In welchem Umfang er seine Finger wieder bewegen kann, weiss er zurzeit nicht. Es sei schon viel besser, als noch vor ein paar Wochen. Natürlich habe ihn das beim Umzug ziemlich stark behindert und alles habe halt ein wenig länger gedauert, aber was wolle man machen.

Wir sind erstaunt über seine Gelassenheit. Des Bildhauers wichtigsten Werkzeuge sind doch seine Hände, denken wir uns.

Horst Bohnet wurde 1962 in Brig VS geboren und wuchs in Regensdorf ZH auf. Er absolvierte die Steinbildhauerlehre in Zürich und erwarb in St. Gallen das Eidgenössische Diplom in der Bildhauermeisterschule. Umgezogen ist er zwar einige Male, allerdings blieb er immer in derselben Region, am östlichen Ende des Furttals. Er ist verheiratet und dreifacher Vater von schon fast erwachsenen Kindern.

Wenn man seine Werke in der jüngeren Vergangenheit betrachtet, vermutet man nicht unbedingt einen Steinbildhauer dahinter. Wie er seinen Beruf heute bezeichnen würde, möchten wir deshalb gerne wissen. Er schmunzelt und muss ein wenig überlegen. Vielleicht einfach Bildhauer oder Kunstschaffender. Er habe für sich schon früh bemerkt, dass er Freude an der Arbeit mit unterschiedlichen Materialien habe. Und Grabsteine «ab der Stange» zu verkaufen sei nicht so seine Sache. Ein Grabstein sei für ihn ein sehr persönliches Objekt, welches jeweils individuell angefertigt gehöre und einzigartig sein sollte. Da dies ziemlich zeitintensiv in Gesprächen mit Kunden erarbeitet werden müsse, würden natürlich auch die Kosten entsprechend höher liegen als im Vergleich zu Norm-Grabsteinen. Und dass diese hohen Kosten die Kunden abschrecken würden, sei heute auch verständlich. Ein Friedhof sei ein Spiegelbild der Gesellschaft. Im Vergleich zu früheren Zeiten möchten die Menschen heute ihr Geld fürs Leben ausgeben und nicht für die Toten, lapidar gesagt.

Horst Bohnet

Wir stimmen ihm zu, denn viele Gräber sind tatsächlich mit sehr ähnlichen – wenn nicht sogar identischen – Grabsteinen versehen. Ein geübtes Auge erkennt ziemlich schnell, welcher Grabstein von welchem Hersteller produziert wurde. Auch das Motto «so günstig wie möglich» wurde uns bereits beim Besuch des Friedhofforums in Zürich erläutert. Die Zeiten, wo Familien wie Pestalozzi oder Escher-Wyss ganze Friedhofsbereiche für sich in Anspruch nehmen, sind schon lange vorbei.

Wir fragen ihn, wie es denn zum Projekt «Werden und Vergehen», der Installation für die Engelskinder auf dem Friedhof Zollikerberg, gekommen sei. Das sei eine Projektausschreibung gewesen – ein Wettbewerb, an welchem er teilgenommen und auch gewonnen habe.

Das Grabmal für die Engelskinder befindet sich auf einer Wiese auf dem Friedhof. Es besteht aus einem ca. drei Meter hohen Metallring, welcher aufrecht am Rand der Wiese steht. Ein schmaler Pflastersteinweg führt den Besucher durch den Ring hindurch, quer über die Wiese bis hin zum Gemeinschaftsgrab der Engelskinder. Hier befindet sich ein kleiner und runder Platz, in dessen Mitte eine Stahlplatte mit den Namen der hier gebetteten Engelskinder liegt. Einige Details und Überlegungen des Künstlers erschliessen sich dem Besucher nicht auf den ersten Blick. Wie z.B. die Verknüpfung der Emotionen der Besucher mit dem Perspektivenwandel, welcher während der Begehung des Weges stattfindet. Bitte lesen Sie die ausführliche Projektbeschreibung des Künstlers. Diese haben wir in der Infobox am Ende des Artikels als PDF verlinkt.

Horst Bohnet Grabstelle Engelskinder Zollikerberg

Horst Bohnet lässt jedes Jahr die Namen von neuen Engelskindern auf die Platte gravieren. Wenn er zu diesem Zweck jeweils die Metallplatte auf dem Friedhof abhole, halte auch er einen Moment inne. Denn auch er musste sich in seinem Leben mit dem Verlust eines ungeborenen Kindes auseinandersetzen. Dort, an diesem speziellen Ort, würden einen schon Fragen beschäftigen. Was wäre wohl anders gelaufen in seinem Leben? Wäre er heute derselbe Partner und Vater, Vater von drei Kindern? Wie fest und in welche Art und Weise hat wohl diese Erfahrung seine berufliche Laufbahn beeinflusst?

Wir sind dankbar dafür, dass er uns nicht «nur» an seiner Kunst teilhaben lässt und auch ein solches sehr persönliches und einschneidendes Erlebnis teilt.
Er habe im Jahre 2015 nochmals ein Grabmal für Engelskinder im Waldfriedhof Schaffhausen erstellen dürfen: Einen aus Stein gehauen Kokon. Die Metamorphose der Raupe zum Schmetterling zeige für ihn eine Parallele zu den Frühverstorbenen auf. Viele Menschen finden Hoffnung und Zuversicht im Gedanken, dass am Ende etwas Wunderschönes entsteht und mit Leichtigkeit gen Himmel fliegen kann. Ganz unabhängig davon, wie schlecht die Vergangenheit auch immer war. Auch für diese Installation haben wir die Gedanken des Künstlers in der Infobox als PDF verlinkt.

Modell Kokon von Horst Bohnet

Ob er denn auch negative Erfahrungen im Zusammenhang mit den Installationen auf den Friedhöfen machen musste, möchten wir gerne wissen. Horst Bohnet überlegt kurz und antworte dann folgendermassen: Nein, er wisse nichts von Beschwerden oder Ähnlichem. Er lacht kurz laut und fügt dann hinzu: Vermutlich habe es ihn bis heute einfach noch nicht erreicht. Es gäbe sicherlich auch Menschen, die nicht wirklich viel mit seinen Installationen anfangen könnten. Aber die ganze Welt zufriedenzustellen sei ja nicht möglich. Er erfahre das auch wieder in seiner eigenen Familie. Er würde es absolut in Ordnung finden, wenn sich auf dem Grabstein seines verstorbenen Vaters Moos und Flechten bequem machen würden. Seine Meinung würde aber nicht durch alle Familienmitglieder geteilt und so sei halt dieser Grabstein auch nach zehn Jahren noch ziemlich sauber. Die Geschmäcker sind halt auch auf dem Friedhof unterschiedlich…

Wir lachen gemeinsam über diese Anekdote und stellen fest, dass es bereits am Eindunkeln ist. Der Nachmittag ist fast vorbei und wir nutzen die verbleibende Zeit noch um ein paar Fotos zu schiessen. Dann ziehen wir unsere warmen Winterjacken wieder an und verabschieden uns von Horst Bohnet und seiner Kunst.

Lieber Horst, vielen Dank für deine Zeit und deine Offenheit.